In diesem Werk werde ich die Grundkonzepte der Aufklärung untersuchen und analysieren, inwieweit sie sich im Laufe der Zeit bewährt haben. Besonders werde ich die Definitionen von Kant, Horkheimer und Adorno sowie einige moderne Interpretationen der Aufklärung betrachten. Außerdem werde ich der Frage nachgehen, welche Rolle die Medien und die Informationsbeschaffung im digitalen Zeitalter spielen und inwiefern unsere Gesellschaft den Idealen der Aufklärung gerecht wird.

Wie Kant sagte, ist Aufklärung der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, welche das Unvermögen ist, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. (1) Dieser Satz impliziert, dass der Mensch sich selbst Beschränkungen auferlegt hat, aus denen er nicht herauskommt oder deren Überwindung große Anstrengungen erfordert. Es ist nicht so, dass der Mensch unwissend ist und ihm das Wissen fehlt, sondern dass es ihm an Mut und Entschlossenheit mangelt. In diesem Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, liegt die Aufklärung. Ein Leben in Faulheit und Feigheit macht die Menschen den Vormündern untertan. Es ist für die Menschen so bequem, unmündig zu sein, denn sie müssen nicht nachdenken; ihre Vormünder denken für sie. Hier vergleicht Kant die Menschen mit ruhigem Hausvieh, das von den Vormündern dumm gemacht und in Gängelwagen eingesperrt wurde. Außerdem zeigen die Vormünder den Menschen die Gefahr, die ihnen droht, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Also wagen die Menschen es nicht einmal, das Gehen zu lernen. Es ist für jeden einzelnen Menschen nicht nur schwer, sich aus der Unmündigkeit herauszuarbeiten, sondern er hat es sogar liebgewonnen, sich seines eigenen Verstandes nicht zu bedienen. Es sind Satzungen und Formeln, die ein Missbrauch des vernünftigen Gebrauchs sind und dem Menschen das rationale Denken ersetzt haben.

Kant stellt fest, dass ein Publikum nur langsam zur Aufklärung gelangen kann. (2) Nicht einmal eine Revolution würde diesen Zustand verändern. Durch eine Revolution wird keine wahre Reform der Denkungsart zustande kommen, denn neue Vorurteile werden ebenso wie die alten zum Leitfaden des gedankenlosen großen Haufens dienen. Trotzdem ist die Aufklärung des Publikums beinahe unausbleiblich, wenn man ihm nur Freiheit lässt. Da werden sich immer einige Selbstdenkende, sogar unter den eingesetzten Vormundern des großen Haufens finden. Sie werden das Joch der Unmündigkeit selbst abwerfen und den Geist des selbstständigen Denkens verbreiten. Hier impliziert Kant, dass ein Publikum sich nur unter der Führung des aufgeklärten Monarchen selbst aufklären kann. Nur ein solcher Vormund wird aufhören, Vorurteile zu pflanzen. Aber es ist nicht die Freiheit, wie sie ist, die der aufgeklärte Monarch bietet, sondern die Freiheit, den öffentlichen Gebrauch seiner Vernunft in allen Stücken zu machen. Er sagt: „Räsonniert, so viel ihr wollt und worüber ihr wollt, aber gehorcht!“ Damit meint Kant, dass der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft jederzeit frei sein muss. Der Privatgebrauch darf dagegen oft sehr eng eingeschränkt sein, ohne den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern. Als Beispiel für den öffentlichen Gebrauch nennt Kant einen Gelehrten, der Gebrauch seiner eigenen Vernunft vor dem ganzen Publikum macht. Unter dem Privatgebrauch versteht Kant denjenigen, den jemand in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder Amt von seiner Vernunft machen darf. Im Interesse der künstlichen Einhelligkeit, die von der Regierung zu öffentlichen Zwecken angestrebt wird oder wenigstens vor der Zerstörung dieser Zwecke schützen soll, ist es nun freilich nicht erlaubt zu räsonnieren; man muss gehorchen. Um es einfach auszudrücken: Kant ist optimistisch, dass, wenn jedem die Freiheit eines Gelehrten gewährt wird, die Menschen sich nach und nach von selbst aus der Rohheit herausarbeiten werden. Die Regierung muss nicht künstlich eingreifen, um diesen Prozess aufrechtzuerhalten. Eines der Hauptzeichen dafür, dass ein Monarch selbst aufgeklärt ist, besteht darin, dass er es als seine Pflicht ansieht, den Menschen in religiösen Angelegenheiten nichts vorzuschreiben, sondern ihnen volle Freiheit zu lassen. (3)

Diese Formulierung der Aufklärung bei Kant ist mit einer Reihe von Problemen behaftet. Erstens betont Kant, dass der Mensch in seiner Eigenschaft als Gelehrter seine Gedanken frei und öffentlich der Welt zur Prüfung darlegen soll. Das heißt: Wenn man dem Menschen als Gelehrtem die Freiheit gibt, Kritik zu äußern, dann trägt dies zur Aufklärung bei. Doch woher nimmt Kant die Idee, dass jeder Mensch die angeborene Fähigkeit besitze, wissenschaftliche und kritische Werke zu verfassen? Ein Lehrer kann seine Arbeit gut machen und dennoch mit dem Bildungssystem unzufrieden sein. Aber in einer philosophischen Abhandlung würde sie darüber nicht schreiben, da ihr die Kompetenz für eine solche Analyse fehlt. Kant verwechselt hier offensichtlich Wunschdenken mit Realität. Dass er kritisch denken und seine Gedanken in wissenschaftlichen Arbeiten zum Ausdruck bringen kann, bedeutet nicht, dass jeder dazu in der Lage ist. Das nächste Problem besteht darin, dass Kant keine Antwort darauf gibt, wie der Mensch als Gelehrter Vorurteilen aus dem Weg gehen kann. Warum kann eine Revolution niemals eine wahre Reform der Denkungsart bewirken und somit aufhören, Vorurteile zu pflanzen, indem sie alte durch neue ersetzt, während der aufgeklärte Monarch die Macht hätte, dies zu verhindern? (4) Der Monarch kann dem Menschen die Freiheit geben, sich im eigentlichen Verstande durch Schriften an das Publikum zu wenden. Diese Freiheit wird jedoch einen Menschen nicht davon abhalten können, weiterhin auf Grundlage von Vorurteilen zu argumentieren. Das heißt, Kants Annahme, dass ein Mensch, wenn ihm die Freiheit zum eigenen Denken gegeben wird, selbstständig zu denken beginnt und sich von Vorurteilen befreit, hat keine rationale Grundlage. Und an dieser Stelle kann kein Monarch helfen, nicht einmal der aufgeklärteste von allen. Damit kommen wir zum dritten Problem. Um Aufklärung zu ermöglichen, stützt sich Kant auf einige selbstdenkende Menschen, die den Geist des eigenständigen Denkens verbreiten. Aus irgendeinem Grund erschien eine solche selbstdenkende Person jedoch nur zu Kants Zeiten in der Gestalt Friedrichs II., den Kant einen aufgeklärten Monarchen nennt. Deshalb antwortet Kant auf die Frage, ob wir in einem aufgeklärten Zeitalter leben, dass wir uns in einem Zeitalter der Aufklärung befinden. (5) Aber warum nicht früher? Warum entstand die Aufklärung nicht bereits während der athenischen Demokratie im antiken Griechenland oder unter der Herrschaft der römischen Kaiser? Wenn Friedrich II. der erste Monarch war, der das Joch der Unmündigkeit selbst abgeworfen hatte, dann gibt es keine Gewissheit, dass ihm andere Monarchen gefolgt wären oder dass später ebenso aufgeklärte Herrscher aufgetaucht wären. Die Tatsache, dass er die Künste und Philosophen unterstützte – darunter Kant, der an die Berliner Akademie eingeladen wurde – sowie Presse- und Literaturfreiheit gewährte, bedeutet nicht zwangsläufig, dass damit die Ära der Aufklärung begann. Es könnte sich lediglich um einen seltenen lokalen Fall der preußischen Regierungsführung zu Kants Zeiten handeln – ein Phänomen, das dazu verdammt war, lokal zu bleiben, ohne über die Grenzen des Staates hinauszuwirken, und mit dem Abgang Friedrichs zu verschwinden. Das heißt, vielleicht hat die Aufklärung nie begonnen, und der Mensch überlässt sein Denken weiterhin der Führung anderer. Schließlich mischt Kant die Karten neu und behauptet, dass sich der befremdliche und unerwartete Gang menschlicher Angelegenheiten gerade im Zeitalter der Aufklärung offenbare. Ein höheres Maß an bürgerlicher Freiheit setzt dem Geist des Volkes unüberwindbare Schranken, während ein geringeres Maß ihm hingegen Raum lässt, sich in all seinen Möglichkeiten zu entfalten. (6) Mit anderen Worten, Kant will damit ausdrücken, dass der Freiheit mit besonderer Verantwortung und Zurückhaltung begegnet werden muss und dass sie nur unter diesen Bedingungen Früchte trägt. Doch daraus ließe sich schließen, dass jede Einschränkung der Freiheit als logischer Fortschritt der Aufklärung gelten könnte, während deren Ausweitung als Rückschritt erscheinen würde.

Die Kritik moderner Philosophen an der Aufklärung basiert vor allem darauf, dass tatsächlich kein wirklicher Fortschritt erreicht wird. Einige der bekanntesten Kritiker der Aufklärung waren Horkheimer und Adorno, die ihre berühmte These formulierten, dass die Menschheit in eine neue Art der Barbarei versinkt. (7) Angewidert und schockiert von Faschismus, Stalinismus und dem Holocaust, aber auch sehr kritisch gegenüber ihrem Zufluchtsort, den USA, erklärten sie, dass der Fortschritt letztlich ein verkleideter Rückschritt ist. Das Dunkelste daran ist, dass das Programm der Aufklärung die Entzauberung der Welt und die Befreiung des Individuums bezweckte – doch am Ende schuf die Aufklärung nur neue Formen der Sklaverei und eine total verwaltete Welt. Doch selbst das eigentliche Ziel der Aufklärung – die Welt von allem Aberglauben zu reinigen – war in sich paradox. Der Mythos selbst enthält bereits den Keim der Aufklärung, denn Mythen dienen dazu, das Unerklärliche zu deuten. Mit anderen Worten: Konzeptionell muss sich die Aufklärung selbst verschlingen, denn die Mythen waren bereits ihr eigenes Produkt. Nach dem Slogan „Die Vernunft soll herrschen!“ treten Formeln und Regeln an die Stelle der alten mythologischen Erzählungen und Erklärungen. Die Aufklärung wurde zum Diktator, der die Natur manipulierte und sie zum bloßen Werkzeug menschlicher Zweckrationalität machte. (8) Schamanen und Orakel wurden durch Wissenschaftler und Industrielle ersetzt, während das einfache Volk zu Galeerenarbeitern degradiert wurde. In der modernen ökonomischen Arbeitsteilung gibt es keine Empfindungen mehr, keinen Realitätsbezug – nur noch bloßes Funktionieren. Isolation und Anonymisierung prägen die moderne Gesellschaft, in der das Individuum nichts mehr, die Masse hingegen alles zählt. Aufklärung und Denken werden so zum Herrschaftsinstrument der ökonomischen Mathematik, der Organisationen und Maschinen, die den Menschen unter ihre Knute zwingen.

Am Beispiel von Homers Odyssee zeigen Horkheimer und Adorno, dass die Aufklärung das Individuum nur insoweit frei macht, wie es sich selbst unter Kontrolle bringen kann. (9) Gegenüber den Mächten des Mythos erscheint Odysseus modern und aufgeklärt. Er reist durch eine Welt, die noch vollkommen mythologisch ist, aber er gibt dem Glauben an die mythologische Götterwelt nicht nach. Um zu seiner Frau Penelope und seinem Königreich zurückzukehren, nutzt er die List. Er weiß, dass er von den Stimmen der Sirenen ins Verderben geführt werden kann. Deshalb verschließt er seinen Gefährten mit Wachs die Ohren und lässt sich an den Mast des Schiffes fesseln. Die Tatsache, dass Odysseus dem Lied der Nymphen zuhören will, zeigt, dass er dem Lockruf des Mythos nicht widerstehen kann. Nur um den Preis der Selbstfesselung betrügt er die mythischen Wesen, die sich, entsetzt über diese List, ins Meer stürzen müssen. Das heißt, dass das aufgeklärte Individuum die archaische Natur manipuliert, sich ihr aber gleichzeitig unterwerfen muss, weil es nicht anders kann. Die Dialektik der Aufklärung besteht darin, dass sie versucht, den Mythos zu verdrängen, und doch selbst von ihm durchdrungen ist. Am Ende neigen Horkheimer und Adorno dazu zu sagen, dass die Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ schließlich zu einer pervertierten bürgerlichen Moral geführt hat. An die Stelle der Religion trat die Vernunft, die jedoch keine inhaltlichen Ziele kennt. Sie entartet also, weil sie zum reinen Formalismus wird. Wie es beispielsweise die Protagonisten des Marquis de Sade zeigen, ist es möglich, zu aufgeklärt und rational und trotzdem oder gerade deswegen lasterhaft zu werden. (10) De Sade bezeichnet dies als natürlich und typisch menschlich. Seine lasterhafte Juliette lehnt jede Religion ab, während sie die Wissenschaft vergöttert. Sie lobt die Vernunft und die Macht, wie es später Nietzsche in seinen Werken verkündet. Seine Übermenschen ersetzen Gott, weil der Monotheismus als Mythologie durchschaubar geworden ist. (11) Nietzsche will dem höheren Selbst angehören, während die alten asketischen Ideale als Selbstüberwindung für die Entwicklung der herrschenden Macht gepriesen werden. Der Übermensch erweist sich als verzweifelter Versuch zur Rettung Gottes, der gestorben sei. Sie bringen ein neues moralisches Ideal hervor, in dem Mitleid die Sünde schlechthin ist. Es ist eine Schwäche, geboren aus Angst und Unglück – eine Schwäche, die man vor allem dann überwinden muss, wenn man daran arbeitet, eine übermäßige Empfindsamkeit zu überwinden. Mitleid pervertiert das universelle Gesetz, sobald es uns dazu bringt, eine von den Naturgesetzen geforderte Ungleichheit zu stören. (12) In diesem despotischen Prinzip, wo Güte und Wohltun zur Sünde werden und Herrschaft und Unterdrückung zur Tugend, werden die Schattenseiten der Aufklärung offenbart.

Im Kontext moderner Krisen und Kriege wirken viele Kritikpunkte von Adorno und Horkheimer auch nach 40 Jahren noch beängstigend aktuell. Zum Beispiel äußert Matthias Zehnder in seinem Artikel „Aufklärung 2.0 – Haben die Medien es vergeigt?“ seine Ansichten über die Errungenschaften der Aufklärung mit Pessimismus und ruft dazu auf, zur Besinnung zu kommen. (13) Zehnder schreibt, dass selbstständiges Denken erfordert, dem Kopf freie Bahn zu geben und Zugang zu Wissen zu ermöglichen. Die Aufklärung hat dabei eine entscheidende Rolle gespielt, indem sie diesen Zugang wesentlich erleichtert hat. Denis Diderot und Jean-Baptiste d’Alembert werden erwähnt, die ab 1751 eine Encyclopédie veröffentlichten, um das gesamte Wissen der damaligen Zeit zu sammeln und abzubilden. Verglichen mit 1751 ist es heute einfacher denn je, sich Wissen anzueignen und sich zu informieren. Zusätzlich zu den Informationsangeboten von Universitäten und Bibliotheken stehen uns heute Millionen Wikipedia-Einträge, unzählige Websites und nun auch eine nahezu unbegrenzte Informationsquelle durch KI-Generatoren zur Verfügung. Es scheint, als lebten wir im Zeitalter der Aufklärung 2.0. Doch Zehnder gesteht, dass er den Schülerinnen und Schülern nicht mehr in die Augen schauen kann. Kant, Diderot und Voltaire haben für die Freiheit des Geistes und der Information gekämpft. Mit der Aufklärung erwachten die Bürgerinnen und Bürger und befreiten sich aus den absolutistischen Zwängen von Kirche und Krone. Und was ist das Ergebnis? Unsere Gesellschaft hat sich bloß neue Kirchen geschaffen und sich neuen Kronen unterworfen. Die moderne Gesellschaft schluckt alles, was die Medien hergeben – wie eine gehorsame Herde: viel Werbung und Desinformation, Fake News und einen neuen Aberglauben an Verschwörungserzählungen. Die Aufklärung ist gescheitert, denn unsere Welt lässt sich von Macht und Geld – und nicht von den Prinzipien der Aufklärung, von nüchternem Verstand und rationalem Denken – leiten. Es sind vor allem die Folgen des blinden Glaubens an den Fortschritt. Der Mensch meint, dass die Aufklärung ein Selbstläufer sei. Kant sagte, Aufklärung sei das Vermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Doch das ist keine Selbstverständlichkeit. Es genügt nicht, Kirche und Könige abzuschaffen und den Menschen dadurch die Möglichkeit zu geben, selbst zu denken – sie müssen es auch tatsächlich tun. Zehnder kommt zu dem Schluss, dass die Tatsache, dass wir heute in einer mitunter schon dystopisch anmutenden Welt leben, nicht bedeutet, dass die Thesen der Aufklärung falsch sind. Die Aufklärung ist eine Gelegenheit – wir haben es in der Hand. Der Zugang zu Wissen und Informationen war noch nie so einfach, aber wir müssen auch lernen, Medien sinnvoll zu nutzen.

Man kann Zehnder zustimmen, dass Aufklärung kein Selbstverständnis ist. Seine Lösung wirft jedoch Fragen auf. Erstens findet sich in Kants Thesen zur Aufklärung kein Aufruf zum Sturz von Königen und Kirchen. Kant erkannte die Kirche und den König in ihrer Rolle als Vormünder des Publikums durchaus an – vorausgesetzt, dass sie selbst zur Aufklärung fähig sind. Kant lobt Friedrich II. ausdrücklich und nennt ihn ein glänzendes Beispiel eines aufgeklärten Monarchen, der seinen Untertanen erlaubt, von ihrer eigenen Vernunft öffentlichen Gebrauch zu machen und ihre Gedanken über eine bessere Verfassung der Welt öffentlich vorzulegen. (14) Ebenso ist Kant nicht gegen die Kirche, sofern sie einem Geistlichen die volle Freiheit gibt, alle seine sorgfältig geprüften und wohlmeinenden Gedanken über Missstände sowie Vorschläge zur besseren Organisation des Religions- und Kirchenwesens der Öffentlichkeit mitzuteilen. Das heißt: Kants Ideale der Aufklärung stehen nicht im Widerspruch zu autoritärer Staatsführung – im Gegenteil, sie können sogar zu deren Förderung beitragen. Wenn das Staatsoberhaupt ein aufgeklärter Monarch oder Papst ist – wer außer ihm könnte das Publikum zwingen oder motivieren, sich als Gelehrter gegen Unsittlichkeit oder Ungerechtigkeit öffentlich zu äußern? Zweitens schreibt Zehnder, dass die Aufklärung den Zugang zu Wissen erleichtert habe, um den Gebrauch des eigenen Verstandes zu fördern. Er erwähnt die französischen Enzyklopädisten, die 1751 die erste moderne Enzyklopädie veröffentlichten. Kant hingegen misst dem Zugang zu Wissen und Informationen keinen zentralen Wert bei. Sein wichtigster Appell bestand vielmehr darin, sich von Dogmen, Glaubenssätzen und Vorurteilen zu befreien. (15) Obwohl Denis Diderot und Jean-Baptiste d’Alembert – die im monarchischen Frankreich unter Ludwig XV. lebten – tatsächlich im Kampf gegen Vorurteile halfen, lässt sich das von modernen Wissensquellen nicht uneingeschränkt behaupten. Eine Enzyklopädie, die Definitionen liefert, ist nicht gleichzusetzen mit einem Beitrag in einem sozialen Netzwerk oder Messenger, der Meinungen zu diesen Definitionen äußert. Medien, soziale Netzwerke oder KI-Chats tragen in keiner Weise zur Aufklärung bei – sie denken und urteilen an unserer Stelle. Gerade sie sind zur Hauptquelle von Dogmen, Glaubenssätzen und Vorurteilen geworden. Wie Deleuze sagte: Jede Information ist eine Ansammlung von Parolen. (16) Wenn man uns informiert, sagt man uns, was wir glauben sollen. Mit anderen Worten: Informieren heißt, Parolen zu verbreiten. Man übermittelt uns Informationen – das heißt, man sagt uns, was wir glauben sollen oder glauben müssen. Letztlich heißt das: Information ist das System der Kontrolle. In diesem Fall ist es unmöglich, sich seines eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen – es sei denn, es gibt Gegeninformation. Gegeninformation ist hier als Widerstand gegen das Informationssystem selbst zu verstehen. Sie ist nur dann wirksam, wenn sie zu einem Akt des Widerstands wird – und dabei spielt die Kunst eine zentrale Rolle. Ein Kunstwerk ist kein Kommunikationsmittel, und es enthält keineswegs Information. Dennoch besteht eine grundlegende Affinität zwischen dem Kunstwerk und dem Akt des Widerstands. Deleuze greift hier Malraux’ Konzept auf und sagt, dass die Kunst das Einzige sei, was dem Tod widersteht. (17) Eine Statuette aus der Zeit dreitausend Jahre vor unserer Zeitrechnung ist ein eindrucksvolles Beispiel für diesen Widerstand. Daraus folgt: In der Zeit der Aufklärung müsste die Kunst die Information vollständig ersetzen. Seit Kants Zeit ist das nie geschehen – und es ist schwer zu glauben, dass es je geschehen wird, es sei denn, ein autoritärer Herrscher mit fanatischer Kunstverehrung erzwingt es und schaltet alle Informationsquellen aus.

Eine andere, von Habermas, einem Nachfolger von Adorno und Horkheimer, vorgeschlagene Lösung stellt ebenfalls eine Verbindung zwischen der Aufklärung und der Kunst her. In seinem Artikel „Die Moderne – ein unvollendetes Projekt“ zeigt sich Habermas nachsichtiger gegenüber den Ergebnissen der nachkantischen Ära und warnt vor voreiligen negativen Schlussfolgerungen über die Moderne, wie etwa „Unvernunft“ oder „Rückschritt“. (18) Er erwähnt Walter Benjamins Konzept der Post-Historizität, das eine Sichtweise impliziert, in der historische Ereignisse nicht mehr als kontinuierliche, geordnete Abfolge verstanden werden, sondern als fragmentiert – mit Betonung auf Diskontinuität und dem Bruch mit der Vergangenheit. So wie die Mode eine Witterung für das Aktuelle hat, wo immer sie sich im Dickicht des Einst bewegt, greift auch die Moderne auf die Vergangenheit zurück, indem sie Elemente daraus auswählt – nicht mit dem Ziel einer getreuen Reproduktion, sondern um sie für die Gegenwart anzupassen und neu zu interpretieren. Habermas weist darauf hin, dass es keinen Sinn hat, die Kritik der Moderne auf der Annahme eines totalen gesellschaftlichen Rückschritts zu begründen, denn das Zeitbewusstsein rebelliert gegen die erstarrte Musealisierung der Maßstäbe, wie sie vom Historismus praktiziert wird. Die Moderne entlehnt nicht mehr der Autorität einer vergangenen Epoche, sondern einzig der Authentizität einer vergangenen Aktualität. Wenn früher das, was die Zeiten überdauert, stets als klassisch galt, so schafft sich die Moderne nun ihre eigene Klassizität. Eine klassische Moderne wirkt nicht mehr befremdlich. Das neue Zeitbewusstsein äußert sich in der Antizipation einer unbestimmten Zukunft und im Kult des Neuen. Aber diese Orientierung nach vorne und die Feier des Dynamismus bedeuten in Wahrheit eine Verherrlichung der Aktualität. Das erklärt die abstrakte Opposition zur Tradition – nämlich den Versuch, alles Normative sowie das moralisch Gute und das praktisch Nützliche zu neutralisieren.

Habermas gesteht ein, dass wir das Ende der Idee der modernen Kunst erleben, aber er sieht darin nicht unbedingt den Abschied von der Moderne. (19) In diesem Geiste analysiert er die Ansprüche der Neokonservativen an die avantgardistische Kunst, die in die Wertorientierungen des Alltagslebens eindringt und die Lebenswelt mit der Gesinnung des Modernismus infiziert. Bell, einer der Vertreter der amerikanischen Neokonservativen, schiebt die Auflösung der protestantischen Ethik also einer Kultur in die Schuhe. Dies ist jene Kultur, deren Modernismus die Feindseligkeit gegenüber den Konventionen und Tugenden eines von Wirtschaft und Verwaltung rationalisierten Alltags schürt. Außerdem soll die Avantgarde am Ende sein – sie sei nicht mehr kreativ. Deshalb will Bell die Normen verschärfen, dem Libertinismus Grenzen setzen, Disziplin und Arbeitsmoral wiederherstellen, indem eine religiöse Erneuerung erfolgt. Nur so sei der Anschluss an naturwüchsige Traditionen gewährleistet, die gegen Kritik immun sind, klar geschnittene Identitäten ermöglichen und dem Einzelnen existentielle Sicherheiten verschaffen. Habermas weist jedoch darauf hin, dass der Extremismus, den der Neokonservatismus der kulturellen Moderne zuschreibt, die internen Prozesse der erfolgreichen kapitalistischen Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft keineswegs erklärt. Die kulturelle Moderne hat nichts zu tun mit Hedonismus, mangelnder Identifikations- und Folgebereitschaft, Narzissmus oder dem Rückzug aus Status- und Leistungskonkurrenz, denn sie greift in diese Prozesse nur in höchst vermittelter Weise ein. Daher fordert Habermas, tiefer in die soziokulturellen Ursachen einzudringen, von denen der Neokonservatismus die Aufmerksamkeit abzulenken versucht. Veränderte Arbeitseinstellungen, Konsumgewohnheiten, Anspruchsniveaus und Freizeitorientierungen sind Beispiele gesellschaftlicher Modernisierung, die unter dem Druck der Imperative von Wirtschaftswachstum und staatlichen Organisationsleistungen immer weiter in die Ökologie gewachsener Lebensformen, in die kommunikative Binnenstruktur geschichtlicher Lebenswelten eingreift.

Habermas’ nächstes Argument zur Verteidigung der Moderne beruht auf dem Scheitern des Surrealismus, die Kunst als Ganzes infrage zu stellen. (20) Alle Versuche, die Kunst zu diskreditieren – etwa indem man alles zur Kunst erklärt, jeden zum Künstler erhebt, alle Maßstäbe abschafft und ästhetische Urteile bloß als subjektive Erlebnisäußerungen versteht – haben sich als absurde Experimente erwiesen. Anstatt die Kunst abzuschaffen, wurden alle Kategorien, mit denen die klassische Ästhetik ihren Gegenstandsbereich definiert hatte, ironischerweise bestätigt. Nachdem die surrealistische Revolte die Gefäße einer eigensinnig entfalteten kulturellen Sphäre zerbrochen hatte, löste sich ihr Inhalt auf. Darüber hinaus lässt sich eine kulturelle Tradition, die durch kommunikative Praxis, kognitive Interpretationen, moralische Erwartungen, Ausdrucksformen und Bewertungen geprägt ist, nicht durch Einseitigkeit oder Abstraktion ersetzen. In diesem Sinne ruft Habermas dazu auf, aus den Verirrungen zu lernen, die das Projekt der Moderne begleitet haben – insbesondere aus den Fehlern der verstiegenen Abschaffungsprogramme –, anstatt die Moderne und ihr Projekt selbst aufzugeben. Er schlägt vor, dass die Kunstrezeption einen Ausweg aus den Aporien der kulturellen Moderne eröffnen könne. Grundsätzlich wird die Kunstrezeption als ein Prozess verstanden, in dem sich der kunstgenießende Laie zum Experten heranbilden sollte. Er verhält sich jedoch mitunter wie ein Kenner, der ästhetische Erfahrungen auf eigene Lebensprobleme bezieht. Diese zweite Rezeptionsweise des Laien nimmt eine andere Richtung ein als die des professionellen Kritikers. Hier zitiert Habermas Albrecht Wellmer, der bemerkte, dass eine ästhetische Erfahrung, die nicht primär in Geschmacksurteile umgesetzt wird, ihren Stellenwert verändert. Sie tritt in ein Sprachspiel ein, indem sie explorativ zur Aufhellung einer lebensgeschichtlichen Situation genutzt und auf Lebensprobleme bezogen wird. Dieses Sprachspiel ist nicht mehr das der ästhetischen Kritik, denn es greift mit der ästhetischen Erfahrung zugleich in kognitive Deutungen und normative Erwartungen ein. In diesem Kontext werden Kunst und Geschichte als Werkzeuge zur persönlichen und politischen Aufklärung betrachtet. Der Prozess ist langsam, reflektierend und transformativ; er erfordert vom Laien, Ideen und Perspektiven immer wieder zu durchdenken und in seine eigene Lebenserfahrung und seinen sozialen Kontext zu integrieren.

Ich meine jedoch, dass die Kunstrezeption nicht ausreichen wird, um die kulturelle Moderne mit ihren eigenen Aporien zu bewältigen, ohne das Zeitbewusstsein zu verändern. Im Zeitalter der allumfassenden Gegenwart müssen wir endlich die Sinnlosigkeit der Aufwertung des Transitorischen, des Flüchtigen, des Ephemeren anerkennen. Übermäßiges Vertrauen in die Zukunftsprognosen der Moderne ist kein Zeichen von Rationalismus auf höchster Ebene, sondern eher von scharlatanischer Ignoranz. Die Gesinnung dieser Epoche gibt vor, ins Unbekannte vorzustoßen, sich schockierenden Begegnungen auszusetzen und eine noch unbesetzte Zukunft zu erobern – doch in Wirklichkeit kommt sie keinen Schritt voran, sondern versinkt in die gleichgültigen Tiefen der Geschichte. Die Absicht, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, verwandelt die Moderne in eine Erscheinung ohne Beständigkeit. Man kann nicht behaupten, dass die Menschheit in eine neue Art von Barbarei versunken ist, denn diesem Phantom der Geschichte mangelt es an jeglichen Bewertungskriterien. Gleichzeitig können wir nicht sagen, dass die Moderne über die Voraussetzungen verfügt, an den Intentionen der Aufklärung festzuhalten, bis die Menschheit in den Mainstream der Geschichte zurückkehrt. Um neue Werte zu schaffen, sollten wir uns auf beständige Werte stützen, die nur das Kontinuum der Vergangenheit bieten kann. Deshalb muss die Entzauberung des Kults der Gegenwart in einer vollständigen Ablehnung jeglicher Herrschaft über die Zukunft bestehen. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet dies, sich mit dem Unbekannten abzufinden, sich von der äußeren Informationswelt abzukoppeln – das heißt, sich der Unmittelbarkeit und dem Druck der Aktualität zu widersetzen – und dem eigenen ästhetischen Erleben freien Lauf zu lassen, um sich endlich seines Verstandes ohne die Leitung eines anderen zu bedienen.

Literaturverzeichnis

  1. KANT, EMMANUEL, Was ist Aufklärung? UTOPIE kreativ, H. 159, Januar 2004, S. 5.
  2. Ebenda, S. 6.
  3. Ebenda, S. 7.
  4. Ebenda, S. 6.
  5. Ebenda, S. 9.
  6. Ebenda, S. 10.
  7. HORKHEIMER, MAX / ADORNO, TEODOR, W., Dialektik der Aufklärung, Philosophische Fragmente, Fischer Taschenbuch Verlag, November 2006, p.14.
  8. Ebenda, S. 15.
  9. Ebenda, S. 66.
  10. Ebenda, S. 95.
  11. Ebenda, S. 48.
  12. Ebenda, S. 43.
  13. ZEHNDER, MATHIAS, Mai 2022, https://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/aufklaerung-2-0/
  14. KANT, EMMANUEL, Was ist Aufklärung? UTOPIE kreativ, H. 159, Januar 2004, S. 9.
  15. Ebenda, S. 6.
  16. DELEUZE, GILLES, „Qu’est-ce que l’acte de création ?“ Konferenz am 17. März 1987 im Rahmen der Femis Foundation Dienstags, S. 7.
  17. Ebenda, S. 9.
  18. HABERMAS, JÜRGEN, „ Die Moderne – ein unvollendetes Projekt“ Aus der ZEIT Nr. 39/1980, 19 September 1980.
  19. Ebenda, S. 3.
  20. Ebenda, S. 7.